Wir unternehmen an dieser Stelle mal wieder einen kleinen Ausflug in die Schrift und schauen uns Buchstaben und die Assoziationen und Effekte an, die diese hervorrufen sollen und können.
Ich gebe es an dieser Stelle zu: Lange Zeit in meiner Jugend — und ich glaube, noch darüber hinaus — habe ich geglaubt, dass man „Mötley Crüe“ und „Motörhead“ tatsächlich mit Umlaut-Vokallauten ausspricht, und vermutlich habe ich das auch getan. Verantwortlich dafür war der Heavy-Metal-Umlaut (auch als Röck Döts bezeichnet — und wie spricht man das nun aus?). Der Heavy-Metal-Umlaut kommt, als graphisches Spielchen, aus dem englischsprachigen Raum (und, Überraschung, aus der Metal-Szene), wo vermutlich niemand auf den Gedanken kommt, dass man die Vokale bloß wegen dieser beiden seltsamen Pünktchen anders aussprechen sollte als sonst. Die sind doch nur Accessoires und sehen angeblich „einfach böse“ (Wikipedia) aus. Als (etwas gedankenloser) Deutscher dagegen wäre ich nie darauf gekommen, dass man die Vokale trotz dieser Pünktchen wie normales o oder u aussprechen könnte. „Mötley Crüe“ spricht man also so aus, wie man „Motley Crue [Crew]“ aussprechen würde, und das ist laut Wikipedia so: [ˈmɑːtli kɹuː].
Wenn das „ü“ gerade mal nicht in Diensten des Heavy-Metal-Umlauts steht, wird es von unglaublich spaßigen Zeitgenossen auch gerne verwendet, um Wörter zu „türkisieren“. Das „ü“ kommt, wenn man dieser Liste (¹) glauben darf, im Türkischen mit einer Häufigkeit vor, die ich als „so lala“ bezeichnen würde (deutlich seltener als eine zufällige Buchstabenverteilung erwarten ließe) — trotzdem gilt „ü“, zumindest im Kontext, einfach als Türkisch. Mir ist noch nicht zu Ohren gekommen, dass das „ü“ auch irgendwo verwendet würde, um Wörter auf deutsch zu trimmen, da gibt es diesen Buchstaben ja bekanntlich auch. Aber noch seltener (²) als im Türkischen.
Innerhalb des erweiterten lateinischen Alphabets haben wir dann noch die Zeichen „ø“ und „å“, die gelegentlich in „skåndinåvisierenden Køntexten“ verwendet werden. Auch sehr „spaßig“. Weitere Fälle von Buchstabenentlehnung zu Assoziationszwecken sind mir nicht bekannt. Dabei gäbe es doch beispielsweise im Spanischen auch das markante „ñ“, trotzdem habe ich noch keinen Tourismusprospekt gesehen, der mit „Sañdstrañd und Soññe“ für einen Spanienurlaub geworben hätte. Oder habe ich da etwas übersehen?
= Wér kõ, dêr k̸̛̟̥̫̳̃̉̐̽̿̚ø̶̑ =
Das folgende Beispiel habe ich vor Jahren mal in Granada fotografiert. Da hat sich der Designer wohl so etwas gedacht wie: Was ich kann, das mache ich auch; oder: Hauptsache auffallen. Einen anderen Sinn der verfremdeten Buchstaben kann ich nicht entdecken, Assoziationen werden nicht geweckt:
Ebensowenig Hintergrund haben die mit Diakritika „geschmückten“ Posts in Foren, Blogs oder auf Twitter — da geht es nur darum, Beachtung zu finden und zu hoffen, dass alle anderen nicht schon längst wissen, wie man solche „Ṿ̧̛̥̉̍̒̒̕er̨̫̳̅̇̉̏͡zi̩̪̪̞̟̐̋̏͡͠eȓ̸̢̦̥̣̐́̃un̨̫̮̱̽̿̔̐gę̲̰̪̥̜̗̈́̅̂ͅn“ erstellt. Tipp: Mal in den Unicode-Bereich „kombinierende diakritische Zeichen“ gehen und dort wild rumklicken. Und wenn wir uns dann ausgetobt haben, dann ist es auch wieder gut.
Im nächsten Teil werfen wir einen Blick auf das Яussiscнe.
(¹) Buchstabenhäufigkeit: Türkisch (Türkçe). http://www.sttmedia.de/buchstabenhaeufigkeit-tuerkisch
(²) Buchstabenhäufigkeit: Deutsch. http://www.sttmedia.de/buchstabenhaeufigkeit-deutsch
Eine zufällige Buchstabenverteilung ist kein relevanter Vergleichspunkt, weil es so etwas in natürlichen Sprachen nicht gibt. Das Ü gilt einfach deshalb als typisch türkisch, weil es im Türkischen weitaus häufiger vorkommt als in den meisten (wenn nicht allen) anderen Schriftsystemen.
Das ist natürlich richtig (auch wenn der Rabulist einwerfen könnte, dass das „ü“ im Deutschen vermutlich ebenfalls weitaus häufiger vorkommt als in den meisten Schriftsystemen — außer dem Türkischen) … und gilt auch für „ø“ und „å“.
Zum Thema „Das Ü im Deutschen und im Türkischen“ hat Kristin Kopf im [ʃplɔk] vor etwa zwei Jahren mal einen schönen Artikel verfasst: http://www.sprachlog.de/2011/03/06/vokalharmonisches-turkisch/
„Als (etwas gedankenloser) Deutscher“
Gedankenlos sind nicht die Deutschen, die wissen, was Umlautpunkte bedeuten.
Gedankenlos sind die anglophonen Musiker, die sich durch die deutsche (u. evtl. schwedische) Sprache zu Umlautpunkten in ihren Bändnamen inspirieren ließen und sich dann darüber wundern, dass man in Deutschland diese Namen mit deren Schreibweisen AUS RESPEKT ernstnimmt.
Nicht die Deutschsprachigen sind dabei die Trottel, sondern die Brits&Amis.
Hier noch ein paar lustige Kommentarfäden zum Thema:
http://www.heise.de/foren/suche/?q=antidarwinist%20umlaut
Zunächst einmal: Die Titulierung als „Trottel“ stammt nicht von mir, sondern allein von Ihnen.
Und ich kann auch nicht behaupten, dass ich die Schreibweisen damals mit paarzehn „aus Respekt“ ernst genommen habe, sondern weil ich gar nicht weiter darüber nachgedacht habe — gedankenlos eben (gilt im übrigen beispielsweise auch für „Häagen-Dazs„). Natürlich brauchen sich die Musiker nicht zu wundern, wenn ihr Bandname in Deutschland dann etwas seltsam ausgesprochen wird, … (weiter beim Kommentar zum „Яussiscнeи“)
„Und ich kann auch nicht behaupten, dass ich die Schreibweisen damals mit paarzehn “aus Respekt” ernst genommen habe, sondern weil ich gar nicht weiter darüber nachgedacht habe — gedankenlos eben (gilt im übrigen beispielsweise auch für “Häagen-Dazs““
Also ich habe damals gedacht, dass „Mötley Crüe“, „Blue Öyster Cult“ etc. gerade NICHT Englisch sein können, weil ich solche Umlaut-Verhunzung niemandem zugetraut habe, und habe mir dann ernsthaft Gedanken darüber gemacht, welche Sprache wohl dahinter steckt (gab damals ja noch keinen Zugriff auf entsprechende Infos).
Bei „Häagen-Dazs“ habe ich mich jahrelang gefragt, welchen Denkfehler ich (!) mache, weil ich gehört hatte, dass der Name schwedisch sein soll, ich aber „zs“ nur aus dem Ungarischen kannte. Bis ich dann eines Tages las, dass die Erfinder sich absichtlich etwas Unleserliches zusammengereimt haben. Da habe ich dann meinen Respekt vor solchen Leuten verloren.
Apropos Respekt:
Wer in einem deutschen Text (also Text mit amtlicher deutscher Rechtschreibung) „Bandname“ schreibt, hat zuviel Respekt vor der englischen Rechtschreibung und zuwenig vor der deutschen. In der deutschen Rechtschreibung ist nämlich „Band“ schon anders besetzt.
Das erinnert mich latent an die amerikanische Band „Vixen“, die sich auch stets gefragt haben, warum die Deutschen ihren Namen so…äh…lustig finden.