„Wir Menschen kommunizieren in rund 1000 Sprachen miteinander. Uns genügt es, wenn Sie nur eine Sprache sprechen: die unserer Kunden!“ — diese Aufforderung, Werbung zu schalten, höre ich seit Wochen jedes Mal, wenn ich eine Filiale einer überregional verbreiteten Supermarktkette in meiner Umgebung besuche.

In rund 1000 Sprachen — und jedes Mal wieder irritiert mich diese Formulierung. Möchte wissen, woher sie diese Zahl haben; die Zahlen, die ich so lese, lauten ganz anders.

In der Wikipedia liest man, es gebe weltweit „rund 6500“ Einzelsprachen, im selben Satz laut einer Quelle aus dem Jahr 2005 „sogar 6912 Sprachen“, die aktiv verwendet werden.

Im World Atlas of Language Structures (WALS) gibt es „2676 languages which appear on at least one map in the atlas“ (das mag aber nur eine Auswahl sein).

Der Ethnologue zählte 2009 „6,909 known living languages“; die ISO 639-3 für die Standardisierung von Sprachcodes, die, wie der Ethnologue, von SIL International betreut wird, enthält „[m]ehr als 6.900 Sprachen“ (nicht nur lebende und natürliche).

David Crystal schreibt resümierend:

„Die meisten Nachschlagewerke nennen eine Zahl zwischen 4000 und 5000, doch andere Schätzungen schwanken zwischen 3000 und 10 000.“ (Crystal 1995, 284)
„[D]ie Gesamtzahl […] liegt wohl nicht unter 4000.“ (ebd., 285)

Unsicherheitsfaktoren bei der Bestimmung der Sprachenzahl sind etwa noch nicht entdeckte Sprachen und insbesondere die Problematik der Abgrenzung von Sprache und Dialekt. Mit diesem Problem haben alle Sprachenzähler zu kämpfen, im WALS und im Ethnologue wird das auch explizit angesprochen.

Die Zählung wird vereinfacht, wenn man sich auf offizielle Regelungen beschränkt und etwa nur die Nationalsprachen zählt. Wikipedia hat hier eine Liste mit 116 Sprachen. Dies wäre nun wiederum sehr viel weniger als die im Supermarkt genannte Zahl von 1000 und schon eine sehr engstirnige Auslegung. Für einen kleinen Überblick der Sprachenvielfalt um uns herum beziehe ich mich daher im Folgenden auf den Ethnologue.

Zunächst noch einmal: „Wir Menschen kommunizieren in rund 1000 Sprachen miteinander.“ Naja. Laut Ethnologue (Zählungen von 2009) gibt es, wie gesagt, 6909 Sprachen, die sich wie folgt verteilen (Quelle):

Dabei ist noch zu beachten, dass jede Sprache immer nur einem Erdteil zugeordnet ist; das Englische gilt etwa als Sprache des Vereinigten Königreichs (UK) und damit Europas, obwohl etwa in den USA fast viermal so viele Sprecher leben wie im UK. So ist auch zu erklären, warum in der Quell-Tabelle etwa die Sprecher der lebenden Sprachen Europas mit rund 1,5 Milliarden beziffert sind, obwohl Europa gerade einmal halb so viele Einwohner hat.

Obwohl es also relativ viele Sprecher europäischer Sprachen gibt, ist die Zahl der i.e.S. europäischen Sprachen mit 234 (3,4% von allen) relativ klein. Vielleicht liegt es an der unbewussten Eurozentiertheit, dass der Supermarkt die Sprachenzahl so niedrig angesetzt hat …

Aber auch ich bin nicht weniger euro-, nein, sogar national- und egozentriert: Gleich noch ein Blick auf unsere (und damit meine ich: meine) nähere Umgebung:

Laut Ethnologue-Daten werden in Deutschland insgesamt 69 Sprachen gesprochen, in Österreich 20 und in der Schweiz 26. Davon sind jeweils ein Teil indigene, „einheimische“ Sprachen und ein Teil nicht-indigene, „immigrierte“ Sprachen, die sich wie folgt verteilen (Quelle):

Und bei diesen Zahlen staunt nun der Laie und der Fachmann schlägt lieber nochmal nach: 27 indigene Sprachen in Deutschland? Die Liste (Quelle) lautet: Alemannisch, Bairisch, Dänisch, Deutsch (Standard), Deutsche Gebärdensprache, Jenisch, Jiddisch, Kabardinisch (Ost-Tscherkessisch), Kölsch, Lëtzebuergesch, Limburgisch, Mainfränkisch, Niedersächsisch, Niedersorbisch, Nordfriesisch, Obersächsisch, Obersorbisch, Ostfriesisch, Pfälzisch, Plautdietsch, Polnisch, Romani (Balkan), Romani (Sinte)/Romanes, Romani (Vlax), Saterfriesisch, Schwäbisch und Westfälisch (für Österreich und die Schweiz siehe die sinnvollerweise soeben mit den Ländernamen verknüpften Links …).

Da sind nun doch einige Sprachen enthalten, die landläufig als Dialekte bezeichnet würden, und Polnisch oder Tscherkessisch hätte wohl auch nicht jede(r) sofort genannt. Zur Unterscheidung von Sprachen und Dialekten zieht der Ethnologue die gegenseitige Verstehbarkeit der Varietäten und die gemeinsame (oder unterschiedliche) „ethnolinguistische Identität“ heran. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist die genannte Zahl von 27 Sprachen, die fachlich auf diese Weise einigermaßen begründet ist, landläufig aber möglicherweise kritische Blicke erntet. Schließlich: Wer Alemannisch, Bairisch, Mainfränkisch etc. nicht als Sprachen, sondern „nur“ als Dialekte zählen möchte, wird auch nicht auf 6909 Sprachen kommen, sondern vielleicht nur auf … „rund 1000“? Naja, so weit wollen wir jetzt mal nicht gehen, dem Supermarkt mehr Glauben zu schenken als dem Ethnologue.

Die restlichen, nicht-indigenen in Deutschland gesprochenen Sprachen sind Adygeisch, Algerisches gesprochenes Arabisch, Assyrisch-Neuaramäisch, Chaldäisch-Neuaramäisch, Dimli, Englisch, Griechisch, Hausa, Hebräisch, Hindi, Italienisch, Japanisch, Jütisch, Kalmückisch, Kapverdisches Kreol, Kasachisch, Katalanisch-Valenzianisch-Balearisch, Kirmanjki, Koreanisch, Kroatisch, Lasisch, Lettisch, Marokkanisches gesprochenes Arabisch, Niederländisch, Nord-Kurdisch, Ossetisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Tamil, Tarifit, Tigrinya, Toskisch, Tschetschenisch, Tunesisches gesprochenes Arabisch, Türkisch, Turkmenisch, Turoyo, Uigurisch, Urdu, Vietnamesisch und West-Persisch, wobei nicht bei allen die Sprecherzahl bekannt ist. Von den Sprachen mit bekannter Sprecherzahl sind diese die meistgesprochenen:

Türkisch und Kroatisch machen rund die Hälfte der Sprecher aus, Italienisch, Nord-Kurdisch und Russisch etwa ein weiteres Viertel. Der Rest folgt auf den Plätzen. Damit wären das auch die Sprachen, die (zumindest einige) Supermarktkunden in Deutschland verstehen. Wenn also Gedankenspiele darüber, in wie vielen Sprachen die Menschen kommunizieren und welche Sprachen „unsere Kunden“ sprechen, dann doch bitte so. Und auch, wenn der eine oder andere Miesepeter wahrscheinlich die Nase rümpfen würde, wenn es im Laden Werbung auf Kurdisch oder Vietnamesisch zu hören gäbe — ich fänd’s spannend. Man könnte danach ja eine kleine Info abspielen: Das war …

Quellen:

  • Crystal, David: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Übers. u. Bearb. der dt. Ausg. v. Stefan Röhrich, Ariane Böckler u. Manfred Jansen. Studienausg. Frankfurt/New York 1995.
  • Ethnologue = Lewis, M. Paul (ed.): Ethnologue: Languages of the World, 16th ed. Dallas, Tex. 2009. Internet: http://www.ethnologue.com, aufger. am 28.09.2011.
  • ISO 639-3. In: Wikipedia. Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/ISO_639-3, aufger. am 28.09.2011.
  • List of official languages. In: Wikipedia. Internet: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_official_languages, aufger. am 28.09.2011.
  • Sprache. In: Wikipedia. Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Sprache, aufger. am 28.09.2011.
  • WALS = Comrie, Bernard/Dryer, Matthew S./Gil, David/Haspelmath, Martin: Introduction. In: Dryer, Matthew S./Haspelmath, Martin (eds.): The World Atlas of Language Structures Online. Munich 2011. Internet: http://wals.info/supplement/1, aufger. am 28.09.2011.