Dieser Post ist mit einem aktuellen Anlass verbandelt bzw. durch diesen motiviert. Wem die distanziert-sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema bzw. dem Ausdruck Selbstmord/Freitod zu diesem Zeitpunkt zu makaber oder anderweitig unangemessen scheint, möge bitte an dieser Stelle aufhören zu lesen.
Den tatsächlichen Auslöser zu diesem Post stellte ein Tweet von @LupinoDotOrg von heute vormittag dar:
Liebe Journalisten: wovon hängt das eigentlich ab, ob ihr „freitod“ oder „selbstmord“ schreibt?
— Lupino (@LupinoDotOrg) August 29, 2013
Ich habe diese Frage dankbar aufgegriffen und COSMAS angeworfen. Dabei zeigt sich, dass zum einen in den einzelnen deutschsprachigen Ländern Unterschiede in der Gebrauchshäufigkeit von Freitod und Selbstmord bestehen — obwohl Selbstmord generell der weitaus häufiger verwendete Ausdruck ist:
Nach Ländern | Freitod | Selbstmord | % Freitod | % Selbstmord | |
A | 938 | 9940 | 10878 | 9% | 91% |
CH | 548 | 2822 | 3370 | 16% | 84% |
D | 3398 | 23613 | 27011 | 13% | 87% |
Summe | 4884 | 36375 | 41259 | 12% | 88% |
In DeReKo-Texten aus Österreich ist der Anteil von Freitod geringer als in den anderen Ländern; in Schweizer Texten ist er deutlich höher als zu erwarten wäre, in deutschen Texten ebenfalls höher, wenn auch nicht ganz so deutlich (die Ergebnisse sind nach dem Chi-Quadrat-Test signifikant).
Außerdem kann man die Texte in COSMAS nach der Textsorte gruppieren. Hier zeigt sich dann, dass der Anteil des Ausdrucks Freitod im Feuilleton mit 18% und in den Leserbriefen mit 27% signifikant höher ist als in den anderen Textsorten (keine signifikanten Unterschiede etwa bei den Textsorten Bericht oder Plenarprotokoll; bei den Enzyklopädie-Artikeln ist er dafür mit 11% geringer als im Schnitt, der bei 13% liegt).
Wenn man nun das Google-Orakel befragt (dessen Zahlen immer mit größter Skepsis betrachtet werden müssen), könnte man ins wilde Spekulieren kommen:
Freitod | Selbstmord | % Freitod | % Selbstmord | ||
Ackermann | 13800 | 70300 | 84100 | 16% | 84% |
Wauthier | 7420 | 47400 | 54820 | 14% | 86% |
Herrndorf | 4640 | 18200 | 22840 | 20% | 80% |
Der Anteil von Freitod bei der Suchanfrage ›Ackermann „Freitod“/“Selbstmord“‹ entspricht dem Anteil von Freitod bei Schweizer Texten im DeReKo. Da sich diese Tragödie beim Schweizer Versicherungskonzern Zurich zugetragen hat, läge die Verbindung ja nahe … Nun hat aber nicht Ackermann Freitod/Selbstmord begangen, sondern der Ex-Finanzchef Pierre Wauthier. Bei der Suchanfrage ›Wauthier „Freitod“/“Selbstmord“‹ resultiert jedoch ein geringerer Anteil von Freitod. Vergleicht man dies noch mit den Ergebnissen der Anfrage ›Herrndorf „Freitod“/“Selbstmord“‹, so steigt der Anteil von Freitod wieder auf 20%. Liegt das nun daran, dass Wolfgang Herrndorf ein Autor war und daher das Feuilleton in den Ergebnissen besonders präsent ist? Wohl gemerkt, das sind keine ernsthaften Erklärungsansätze, sondern nur Hinweise auf möglicherweise naheliegende Interpretationen. Obwohl Ockhams Rasiermesser häufig wohl ein brauchbares Prinzip ist — oft ist die naheliegende Interpretation dann wahrscheinlich doch nicht die richtige.
Ach ja, Suizid hätte man auch noch berücksichtigen können … und Selbsttötung … hätte. Und natürlich kann man noch anmerken, dass Selbstmord und Freitod auch gemeinsam in einem Text vorkommen, zur stilistischen Abwechslung.
Für mich war Selbstmord immer ein schauderhafter Begriff, mir nur aus Versehen oder in Kritik an seiner Verwendung über die Tasten oder Lippen kommt.
Die Einstellung unserer Gesellschaft zum gewöhnlichen Mord ist schon verquer genug. Das dann sprachlich auf die Entscheidung auszudehnen, dass eigene Leben zu beenden, ganz gleich ob sie in ruhiger Abwägung oder irrationaler Verzweiflung oder sonstwie getroffen wird, finde ich so grässlich und beleidigend für die Betroffenen, dass ich nicht begreife, warum darüber kaum eine öffentliche Diskussion stattfindet.