Die Adverben bleiben doch neben den Partikeln die kurioseste Kategorie in der Wortartenklassifikation. Hier ein neues Beispiel:
Die Wörter anstelle, aufgrund, mithilfe, zugunsten/zuungunsten, wahrscheinlich auch schweizerisches zuhanden und evtl. auch noch andere werden üblicherweise als Präpositionen klassifiziert, was auch nachvollziehbar ist, da sie, wie bei Präpositionen üblich, den Kasus des abhängigen Ausdrucks bestimmen (= regieren). Etwa: anstelle + Genitiv ⇒ anstelle einer großen Feier …, oder mithilfe + Genitiv ⇒ mithilfe zweier Sicherheitsnadeln …
All die genannten Wörter können jedoch auch mit von verbunden werden: anstelle von, aufgrund von, mithilfe von … Dies ist sogar obligatorisch immer dann, wenn aus dem abhängigen Ausdruck der regierte Kasus (und es ist in den genannten Fällen immer der Genitiv) nicht klar ersichtlich ist (siehe z.B. canoo.net; in der Duden-Grammatik wird davon gesprochen, dass die „Genitiv-Regel“ nicht erfüllt wird, siehe unter Randziffer 1534 neuerer Ausgaben). Die Präpositionalphrase ersetzt also die Genitiv-Nominalphrase, so wie wir das auch in anderen Bereichen kennen (meines Vaters Haus ⇒ das Haus von meinem Vater).
In Wörterbüchern wird dieser Fall von von üblicherweise stillschweigend unter der Überschrift „Präposition mit Genitiv“ mitbehandelt, siehe etwa am Beispiel von anstelle:
Nicht aber im Hause Duden. Im Duden online ebenso wie etwa im Großen Wörterbuch der deutschen Sprache oder im Deutschen Universalwörterbuch werden zwei Lesarten angesetzt, auch hier am Beispiel anstelle:
Da, wo ein Genitiv regiert wird, klassifiziert Duden als Präposition (oberer Fall); da, wo eine von-Phrase folgt, klassifiziert Duden als Adverb. Andere syntaktische oder semantische Unterscheidungen sind nicht ersichtlich; dies gilt auch für die anderen oben genannten Wörter.
Damit macht Duden aber nun ein anderes Fass auf: Zu den traditionellen Kriterien für die Wortart Adverb gehört, dass ein Wort, will es Adverb sein, unter anderem als eigenständiges Satzglied verwendet werden können muss. Daraus folgt bzw. das wird dadurch überprüft, dass ein Adverb (z.B. bei der Verschiebeprobe, siehe dazu allgemein) ins Vorfeld eines Aussagesatzes gestellt werden kann.
Bestehen anstelle, aufgrund, mithilfe, zugunsten/zuungunsten und schweizerisches zuhanden diese Probe? Nach meinem Empfinden nicht:
*Anstelle feierten wir im kleinen Kreis.
*Aufgrund wurde der Angeklagte verurteilt.
*Mithilfe gelang ihr der Aufstieg.
*Zugunsten wurde ein Benefiz-Konzert veranstaltet.
Sie können nur mitsamt einer von-Phrase ins Vorfeld rücken und sie können, außer mit Genitiv, überhaupt nur sinnvoll mit einer von-Phrase stehen. Damit hätten wir Adverben, die eine obligatorisch zu füllende Leerstelle aufweisen, Adverben mit Valenz. So etwas gibt es im Deutschen eher selten, würde ich mich mal aus dem Fenster lehnen zu behaupten. Eine ganz besondere Art Adverben also.
Wahlweise sind es aber gar keine Adverben, sondern doch Präpositionen? Präpositionen, die eben keine traditionelle Nominalphrase regieren, sondern eine Präpositionalphrase? Das steht so in den anderen Wörterbüchern auch nicht ganz explizit, aber es bleibt dort doch alles bei einer Wortart.
Wahrscheinlich sind wir in diesem Fall mal wieder dabei, dem Sprachwandel (und der Grammatikalisierung) über die Schulter zu schauen. Es gibt ja auch ganz vergleichbar gebildete komplexe Präpositionen wie infolge und inmitten, aber auch andere Fälle wie oberhalb/unterhalb, nördlich/südlich/westlich/östlich (mit gegenüber finde ich sogar mal eine Präposition mit Dativ), die ebenfalls mit Nominalphrase oder mit von-Präpositionalphrase funktionieren, bei denen man aber relativ schnell Beispiele findet (= ergoogeln kann), in denen sie auch alleine im Vorfeld stehen (mal mehr, mal weniger kontextabhängig). Hier fällt es leichter, das Fass „Adverb“ aufzumachen — auch wenn das in Übersichten zu Adverben (noch) nicht zu passieren scheint. <scherz>Man käme glatt in Versuchung, das Kopulativkompositum Präpositionaladverb zu bilden — wenn’s das Wort nicht schon anderweitig gäbe</scherz>.
Abschließende Bemerkung: Ich hätte zu dem Thema jetzt natürlich noch ein Dutzend Grammatiken (mindestens aber Eisenberg und die IDS-Grammatik) studieren können — habe ich aber nicht. Es ist ein halbwegs spontaner Blogbeitrag, keine wissenschaftliche Abhandlung (die vielleicht jemand anders längst geschrieben hat). Hinweise sind natürlich trotzdem willkommen. Und es ist vor allem natürlich ein weiteres Beispiel dafür, wozu einen das anregen kann, was man in einem Wörterbuch so findet …
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Siehe auch im Lexikographieblog: Partikularitäten, Njam njam!
„Die Adverben bleiben (…)“ – vielleicht heißt der Plural Adverbien? – „Nach meinem Empfinden (…)“ – könnte es das ‚Sprachempfinden‘ sein? Oder wäre das ein zues „Fass“, das man nicht aufmachen darf? –
Anstelle dass….?
Muss man da in die Sprachgeschichte abtauchen, um Beispiele für den adverbialen [auf ein Verb bezogenen] Sprachgebrauch von ‚anstelle‘ zu finden?
Sperander [i. e. Friedrich Gladov]: Sorgfältiger Negotiant und Wechßler. Leipzig, 1706.
142. cambio reale 143. Wechsels Ursprung
Der Wechsel hat seinen Ursprung zum Theil aus den Waaren Handel / auch zum obigen Theil Unterhalt aus demselben / dann an Stelle / daß man die aus Waaren gelöste Gelder von Ort an Ende baar zu senden hätte / bedient man sich des Wechsels / und darum ist der Wechsel (…)“
Hallo AAntonius, vielen Dank für den freundlichen und gutgelaunten Kommentar.
1) „Adverben“ ist eine Pluralvariante von „Adverb“, schaunse beispielsweise mal in ein Wahrig-Wörterbuch.
2) Natürlich handelt es sich um mein Sprachempfinden, um welches auch sonst. Und damit gleich klar ist, dass die Aussage eben „nur“ auf Introspektion und nicht auf ausführlichen Corpusrecherchen basiert, habe ich das auch da hin geschrieben.
3) (a) Die von mir genannten Duden-Wörterbücher sind keine sprachgeschichtlichen Wörterbücher, die darin genannte Wortartkategorie sollte sicherlich nicht auf Texten des frühen 18. Jhs. beruhen. (b) Trotzdem danke für das interessante Beispiel „anstelle dass“, für das man auch wenige aktuelle Treffer via COSMAS findet. Bei diesem Ausdruck liegt aber weniger ein Adverb vor als vielmehr eine Konjunktion (Subjunktion), so wie bei „anstatt dass“ (außerdem ist das vielleicht ein guter Zeitpunkt, um alle LeserInnen daran zu erinnern, dass Adverb und Adverbial NICHT dasselbe sind). Diese Verwendung von „anstelle“ wird in den Wörterbüchern übrigens gar nicht beschrieben. In den von mir besprochenen Duden-Wörterbuchartikeln (und ich spreche ja nicht ausschließlich, sondern nur beispielshalber von „anstelle“) steht jedoch als Grammatik-Hinweis explizit „Adverb in Verbindung mit »von«“, und auf diese von-Phrasen habe ich mich auch ausdrücklich bezogen. (c) Auch für die Verwendung von „anstelle“ alleine (ohne „dass“) vor dem Verb können Belege gefunden werden (z.B.), allerdings nur sehr wenige — und da stellt sich dann wieder die Frage: Reichen eine Handvoll Treffer, um eine neue Wortart festzustellen? Oder sind das Einzelfälle oder Sonderfälle (Auslassungen, die aus dem Kontext deutlich werden), die (noch) nicht ins Gewicht fallen?
Schönen Sonntag noch,
Ihr Lexikographieblogger
Das Problem ist hier weniger Sprachwandel, sondern die Idee, dass es Wortarten gäbe und die disjunkte Gebilde seien. Schlimmer noch, Wörter sollen in der Lage sein ohne Formveränderung ihre Wortart zu wechseln! Dann sind es offensichtlich keine instrinsischen Wortarten.
Beigetragen zu der Misere hat der Umstand, dass deutsche Grammatiker die Bezeichnungen der Wortarten ziemlich blind aus dem Lateinischen übernommen haben, obwohl die vielleicht für das Deutsche gar nicht adäquat sind.
So ist es z.B. erheblich merkwürdig, dass „schnell“ mal ein Adjektiv und mal ein Adverb sein soll, je nachdem wie es im Satz benutzt wird. Im Lateinischen ist das völlig klar: celer ist nicht celeriter. Aber im Deutschen?
Bei den hier besprochenen Präpositionen kommt noch hinzu, dass ihr Wortstatus zweifelhaft ist. Es ist nämlich gar nicht so klar, was ein Wort ist und was nicht. Deshalb haben Menschen Probleme mit Getrennt- und Zusammenschreibung: Das passiert, wo verschiedene Kriterien für Worthaftigkeit kollidieren.
Deshalb sind, wie oben gezeigt, auch die Schreibungen „anstelle“ und „an Stelle“ dudenhaft. Konkret kollidieren hier das morphologische und das syntaktische Wortkriterium. Syntaktisch ist es eine Einheit, die man nicht auftrennen kann. Ich kann nicht sagen:
* An guter Stelle der Lohnarbeit widmeten sie sich der Kunst.
Morphologisch handelt es sich aber um eine Nominalphrase aus Präposition „an“ und Substantiv „Stelle“. Und als solche regiert das keinen Kasus wie Präpositionen zu tun pflegen, sondern möchte ein Besitzer-Attribut, dass es eben wahlweise mit Genitiv oder „von“ gibt.
Anders ist es noch bei „mit Hilfe“. Da geht noch alles, anders als es im Beitrag oben gezeigt wird: Mit Hilfe gelang ihr der Aufstieg. Mit viel Hilfe gelang ihr der Aufstieg. Mit viel Hilfe von Duygu gelang ihr der Aufstieg. Es handelt sich hier also nicht um syntaktisches Wort.
Könnte und sollte man nicht einfach sowohl bei „anstelle“ und „anstelle von“ von zwei synonymen Präpositionen ausgehen; einer einfachen und einer komplexen, so ähnlich wie man dies auch im Englischen etwa bei den Präpositionen „despite“ und „in spite of“ tut?
https://en.wikipedia.org/wiki/Preposition_and_postposition#Simple.2C_complex_and_improper
Ich verstehe die ganze Aufregung um Adverbien nicht. Nach meiner Analyse ist die Sache ganz einfach: „von“ wird nach „anstelle“ gesetzt, wenn in der anhängigen Phrase der Artikel fehlt. Beispiele:
der Mann –> anstelle des Mannes
Männer –> anstelle Männern –> anstelle von Männern
die Merkel –> anstelle der Merkel
Merkel –> anstelle Merkel –> anstelle von Merkel
So nebenbei wird dann aus dem Genitiv ein Dativ. Warum ist das den Wörterbüchern nicht aufgefallen?
Aber mit eurem phantasierten Sprachwandel hat das nun wirklich nichts zu tun.
OK ich habe noch mal etwas rumrecherchiert und habe jetzt das System entdeckt:
Ich habe dazu stichprobenartig ein paar sogenannte Genitivpräpositionen im Duden aufgerufen („außerhalb“, „abseits“), und auch diese sind dort zweimal vermerkt, einmal als Präposition und einmal als Adverb. Das macht auch Sinn („er steht abseits“, „es liegt außerhalb“). Auch für diese gilt: Bei artikellosem Plural wird „von“ eingesetzt: „Abseits von Städten“.
„anstelle“ passt allerdings nicht in dieses System. Man kann nicht sagen: „Er war nicht da. (1) Sie kam anstelle“.
Die Duden-Redaktion hat hier wohl geschlampt. Ich kann mir aber vorstellen, dass Sprachwandelfäns jetzt hektisch nach „Belegen“ dafür suchen, dass (1) doch im Sprachgebrauch vorkommt.
Mir egal. Mir ist nämlich eine ganz andere These in den Sinn gekommen: Dass nämlich die sogenannten Genitivpräpositionen allesamt den Namen nicht verdienen, denn echte Präpositionen brauchen kein „von“ vor undeterminiertem Plural: „mit/zu/vor Männern“ vs. „anstelle/aufgrund/abseits von Männern“.