Der Anglizismus des Jahres 2010 ist gewählt: Das Verb leaken machte das Rennen vor entfreunden und Whistleblower. Weitere aussichtsreiche Kandidaten, die es letztendlich dann aber nicht aufs Treppchen geschafft haben, waren App, liken, Scripted Reality und Shitstorm.

Die Einhelligkeit, mit der leaken von den Jury-Mitgliedern unabhängig voneinander auf Platz 1 gesetzt wurde, war schon fast erstaunlich (so viel verrate ich: auch bei mir war es Platz 1). Wir haben uns sicherlich nicht dadurch beeinflussen lassen, dass dieses Wort schon im Zeit-Wörterbericht vom 07.01. als „die wichtigste Neuschöpfung 2010“ bezeichnet wurde. Wir wollen mit dieser Wahl auch nichts bewerten: Über die Frage, ob jemand, der vertrauliche Informationen leakt (um diese einer großen Öffentlichkeit bekannt zu machen — also ein Whistleblower), oder derjenige, der diese geleakten Informationen dann, wie Wikileaks, öffentlich zugänglich macht, — über die Frage also, ob diese Personen oder Institutionen „gut“ oder „böse“ handeln, sagen wir mit dieser Wahl nichts aus. Wir haben außerdem nicht krampfhaft versucht, Wörter aus unterschiedlichen Lebensbereichen in bestimmten Verhältnissen in unser Ergebnis aufzunehmen: Dass so viele Anglizismen aus dem Bereich der Medien stammen, liegt nur daran, dass 2010 neue mediale Formen und Phänomene eine große Rolle gespielt haben — und Lehnwörter werden eben genau dort in eine Sprache übernommen, wo neue Phänomene benannt werden wollen.

In unserer Bewertung berufen wir uns auf sprachliche Kriterien, die für die Wörter auf den ersten drei Plätzen, und auch für weitere, in den Blogs der Jury-Mitglieder detailliert erläutert werden (siehe unten für eine verlinkte Übersicht). Im Folgenden ein paar zentrale Punkte:

Wichtigstes sprachliches Kriterum war, dass das Wort eine Lücke im deutschen Wortschatz füllt und mit vorhandenem Sprachmaterial nicht oder nur umständlich wiedergegeben werden kann. Das ist bei leaken der Fall, denn für den Vorgang, dass, wie oben beschrieben, geheime, brisante Informationen an eine große Öffentlichkeit weitergeleitet werden, finden sich im Deutschen keine rechten Entsprechungen. Vorstellbar ist natürlich, dass ein vorhandenes Wort (wie etwa lecken, „Das Schiff leckt“) eine Lehnbedeutung übernimmt, wodurch der fremde Ursprung nicht mehr auf den ersten Blick sichtbar wird (und im Fall von lecken auch gleich noch eine „Lehnstruktur“, denn während es mit leaken möglich ist, zu sagen Er leakte diese Informationen an die Zeitung, ist lecken, obwohl etymologisch verwandt, (noch) nicht transitiv: *Er leckte diese Informationen an die Zeitung).

Vergleichbares gilt für den aus ähnlichem Kontext stammenden (und deshalb hier vor Platz 2 erwähnten) Whistleblower, der zwar von der Schreibung her etwas ungewöhnlich ist, unter Bedeutungsaspekten aber eine Bereicherung der deutschen Sprache darstellt: Vorhandene Wörter wie Verräter oder Maulwurf sind für den verschwiegenen Bereich der Politik- und Wirtschaftsspionage gut, für den Kontext des öffentlichkeitsorientierten Leakens von vertraulichen Informationen aber nicht. Wenn man sich die Entwicklung des vergangenen Jahres ansieht (auf internationaler Ebene die Veröffentlichung des Irakkriegs-Videos und der amerikanischen Botschaftsdepeschen durch Wikileaks, national etwa die Machenschaften von Banken, in deren Aufsichtsräten Politiker sitzen, oder die Debatte um Stuttgart 21, bei der die Bürger sich nicht ausreichend informiert oder wahrgenommen fühlten) und wenn man sich ansieht, wie 2011 weitergeht (Tod eines Soldaten in Afghanistan, evtl. verursacht durch schlampigen Umgang mit Waffen; Tod einer Soldatin auf der Gorch Fock und Gerüchte über sexuelle Nötigung und unangemessene Belastungen der Auszubildenden), dann kann man die Vermutung äußern, dass Whistleblower, die interne Informationen über die Zustände in solchen Institutionen leaken, auch über 2010 hinaus eine große Rolle spielen werden — und damit auch das Vokabular, mit dem dieses Veröffentlichungen bezeichnet werden.

Auch das Verb entfreunden (auch entfrienden < engl. to unfriend) füllt eine Lücke: Obgleich es mit deutschen Sprachbausteinen problemlos wortbildbar gewesen wäre, musste offensichtlich erst ein soziales Netzwerk mit einer Unfriend-Funktion kommen, damit dieses Wort zahlreich Verwendung finden konnte. Das hängt sicherlich auch mit einem Freundes-Begriff zusammen, der ebenfalls erst durch soziale Netzwerke relevant wurde: Nicht bei jedem Facebook-Freund und jeder Facebook-Freundin würde man sagen, dass man mit ihm/ihr auch durch eine Freundschaft im herkömmlichen Sinne verbunden ist. Daher ist ein die Freundschaft kündigen, das ja für entfreunden auch möglich wäre, wohl (noch) zu „stark“ für das Lösen einer Facebook-Freundes-Relation. Möglicherweise wird das leicht verständliche entfreunden sogar an die Stelle der komplexen Wortgruppe die Freundschaft kündigen treten — doch das ist Spekulation, und wilde noch dazu.

Bliebe aus der Sicht des Jurymitglieds noch zu erwähnen, dass die Arbeit mit den vorgeschlagenen Kandidaten zwar manchmal nervenaufreibend, insgesamt aber hochinteressant und von neuen Erkenntnissen begleitet war. Es wäre jedem Neuankömmling in der deutschen Sprache zu wünschen, dass seine Eigenschaften und Möglichkeiten so unvoreingenommen begutachtet würden, wie wir das versucht haben, anstatt mit ziemlich pauschalen Anfeindungen gegen alles, was englisch aussieht, empfangen zu werden. Dass es auch differenziert geht, haben wir hoffentlich bewiesen: Wir konnten klar zeigen, dass viele Anglizismen Lücken aufzeigen und füllen, für die es kein althergebrachtes deutsches Wort gibt — wir haben hier aber keinen „Hurra-Anglizismus“ betrieben, sondern auch darauf hingewiesen, wenn die Lücke, die ein vorgeschlagener Anglizismus füllte, nur sehr klein war. Jetzt wollen wir abwarten, welche neuen Wörter 2011 benötigt werden.

Hier noch die Übersicht über die Kommentare und Studien, die von der Jury — dem Vorsitzenden und Initiator Anatol Stefanowitsch, Sprachlog, Susanne Flach, Decaf — coffee & linguistics, Juliana Goschler, Konstruktionsgrammatik-Blog, Kristin Kopf, Schplock, und mir hier — in den vergangenen Tagen veröffentlicht wurden:

Stationen der Wahl Anglizismus des Jahres 2010: